(3.5.2017, Mittwoch)
Die Art Beijing ist vorbei. Wir haben verschiedene Einladungen bekommen für die nächsten Tage. Heute bauen wir den Lautsänger auf für das Treffen mit Oliver (europäischer Name für den Teil-Telekom-Chef in China; die chinesischen Geschäftsleute geben sich europäische Namen, damit sich die Europäer die Namen merken können).
Das Wetter ist seit gestern etwas kühler, leicht bedeckt, 24-28°C.
Beim Probelauf für den Lautsänger erleben wir, dass es hier fast keinen Klangäther gibt. Auch die verschiedensten Holzstücke klingen trocken, spröde. Erst nach etlichen Stunden gelingt es, mit vielen Griffen und Umstellungen, dass der Lautsänger klingt. Wir werden den Verstärker von Yaping mitnehmen. Kann es tatsächlich sein, dass durch die jahrtausendalte Geschichte, in der in unzähligen Übungen des Taoismus, des Konfuzianismus und vielen anderen Strömungen der Äther aus dem Raum gesaugt wird, dass dieser Raum fast entätherisiert ist? Den Pflanzen nach sieht es so aus, sie kommen über eine bestimmte Stufe nicht hinaus. Als ich das zu Ralf T. ausspreche, meint er, dass Mao-tse-tung auch alle Sperlinge und Spatzen hat ausrotten lassen. Gegenüber allen anderen
Großstädten in den USA, Europa, Afrika gibt es hier so gut wie keine Vögel. Nur vereinzelt, selten. Mao Tse-tung ließ sie ausrotten mit der Begründung, sie würden bei der Saat die Getreidekörner picken und dadurch die Ernte mindern. Kann es tatsächlich sein, dass der Sozialismus auf dem Boden der jahrtausendalten Übungen diese Einzigartigkeit hervorgebracht hat? Nirgends hört man Vögel singen, nur das Bellen von Hunden, das aber fast ununterbrochen. Ein Indiz scheint dies zu bestätigen: Wenn wir verschiedene Chinesen auf dem hier gekauften Flügel spielen ließen, dann klang es unendlich trocken, fast knirschend oder technisch. Insofern ist Lang-Lang wirklich ein Führer Chinas geworden, der die Menschen bewegt, zu musizieren. Noch in den 1980iger Jahren geschah es, dass beim ersten Besuch der Berliner Philharmoniker unter Karajan, 2 Mitglieder des Orchesters beim Aussteigen aus dem Flugzeug abstürzten, da der Gangway nicht zum Flugzeug passte. Bei den Proben sprachen, aßen und schmatzten die chinesischen Zuhörer so laut, dass Karajan diese erste Konzertreihe abbrechen wollte. Mit Lang-Lang üben seit dem Beginn des 3. Jahrtausends ca. 40 Millionen chinesischen Kinder Klavier, Bach, Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert, Debussy usw. Ein Umschwung ist eingetreten, in dem die Kunst inzwischen in das Bewusstsein gekommen ist. Heute gibt es Stille vor dem Anfang eines Konzerts, auch während der Darbietung wird zugehört. Durch das Austilgen der eigenen Kultur (Mao; die sogenannte „Kulturrevolution“ der Viererbande, die alles Religiöse vernichten ließ) ist eine enorme Offenheit für die europäische Musik da. Und man sieht den Menschen diese Veränderung an. Feingliedrig, beseelt und heiter leben sie nun auf die Zukunft zu, die hier überall zu greifen ist. Singen habe ich bis heute nicht einen Menschen gehört. Das, was in Deutschland einen Teil der Kultur ausmacht, indem in jedem Dorf, Ort und Ansammlung von Menschen gesungen wird (der deutsche Chorverband hat 21.000 Chöre und 1,8 Millionen Mitglieder, mit allen anderen Chören in Kirchen, Schulen und freien Projekten müssten es 30.000 in Deutschland sein).
Die Vögel singen hier anders, verhaltener, fast stumm. Es tönt ja auch nichts aus Menschenkehlen.
Marie Steiner sagte ja, es müsse in Amerika gesungen werden. Dasselbe gilt für China:
die Menschen sind offen und warten auf das, was man bringt. Zusammen mit den ersten Übersetzungen von Rudolf Steiner kann durch die Kymatik ein Anfang ausgelöst werden. Gerade erinnere ich mich an den Besuch auf dem sowjetischen Gulag (Solowjetzki-Inseln). Dort singt kein Vogel. Absolute Stille liegt über diesem Ort, den Solschenizyn ja beschrieben hat. Die Art der Stille ist hier ähnlich: 70 Millionen Menschen hat Mao umbringen lassen. Und doch ist der Umbruch stärker. Was für Veränderungen!