Auszug aus: Atmani, Der Tempelbau der Menschheit, Band 1, Mani Verlag 2011
Der Tiefstpunkt der menschheitlichen Entwicklung wird im 19./20. Jahrhundert erreicht, und genau dort tritt Rudolf Steiner auf, um durch die Begründung der Geisteswissenschaft die Wende einzuleiten. Nochmals ist es nötig, gegenüber der bisherigen Auffassung der Naturwissenschaft das Menschenwesen neu zu bestimmen, so, dass der Mensch in die Lage kommt, durch eine gültige Weltanschauung sich aus den Tentakeln einer sich in sich selbst verlierenden Natur-Menschen-Auffassung befreien zu können, die sich gründet im Denken und der Sinnesbeobachtung. Anknüpfend an Johann Wolfgang von Goethe entwickelt Rudolf Steiner eine Möglichkeit der Weltbetrachtung, die nun jeden Menschen einlädt, im Denken tätig und sich dabei der Konstitution des Menschenwesens beobachtend bewusst zu werden. Mit dem Erreichen der Schwelle in allen Bereichen des Lebens bedarf es dieser Weltanschauung, ohne die die Vorbereitung der Rettung der menschlichen Seele nicht möglich ist. Sowohl die Philosophie als auch die Musikentwicklung kommen im 19./20. Jahrhundert an ihr Ende. In keiner anderen Zeit wurde so umfangreich früher Gedachtes und früher Komponiertes kulturell in den Mittelpunkt gestellt. Bis zu Franz Liszt war es selbstverständlich, dass jeder bekannte Musiker vor allem seine selbst komponierte Musik aufführte, und dasselbe kann auch von der Philosophie gesagt werden. Allerdings stand eine Neubegründung aus, denn nach Aristoteles war bis zum 19. Jahrhundert die Menschheit mit der Aufnahme der von ihm gegründeten Logik beschäftigt. Und Rudolf Steiner gelang die Begründung, indem er Aristoteles durch Johann Gottlieb Fichte ergänzte. –
Die Aufgabe der Philosophie wurde durch die Erkenntnistheorie Rudolf Steiners neu gegründet. Denn Rudolf Steiner zeigt auf, wie die Welt im Menschen so konstituiert ist, dass er in der Zusammenführung von sinnlich Gegebenen und dem, was die Seele subjektiv hinzufügt, die Wirklichkeit entstehen lässt. Die Naturwissenschaft hat bis heute diese beiden Pole vereinseitigt. Entweder soll die Wirklichkeit durch die Objekte entstehen, oder es wird alles in den Menschen selbst verlegt, der subjektiv die Eindrücke verarbeitet. Ihre Grundlagen haben diese Auffassungen in Locke (1632-1704) und Berkeley (1684-1753), denen wir uns zuwenden, um dann denkend beobachtend zu erleben, wie Rudolf Steiner die Wende einleitet.
Locke beschreibt das Zustandekommen der Wirklichkeit so, dass die Sinnesorgane von dem wahrzunehmenden Ding Töne, Farben, Gerüche, Wärme vermitteln, die aber, sobald der Sinn sich abwendet, nicht mehr da sind. An den Dingen selbst ist nur Ausdehnung, Figur, Bewegung. Er trennt das Gebiet der Sinneserlebnisse in eine primäre Seite (Gestalt, Lage, Bewegung; kommen den Dingen selbst zu) und eine sekundäre Seite (Ton, Farbe, Gerüche usw.). Diese Anschauung führt auf direktem Wege zur heutigen Physik, die Sinnesqualitäten (Wärme, Farbe, usw.) auf sinnlich nicht direkt erfahrbare »objektive« oder wirkliche Vorgänge in der farblosen und stummen Außenwelt zurückführt.
Berkeley verlegt demgegenüber alle Eindrücke, die die Welt auf die menschliche Seele macht, in diese Seele selbst.
«Sehe ich rot, so muss ich in mir dieses Rot zum Dasein bringen; fühle ich warm, so lebt die Warmheit in mir. Und so ist es mit allem, was ich scheinbar von außen empfange. Außer dem, was ich in mir selbst erzeuge, weiß ich aber überhaupt von äußeren Dingen nichts. So aber hat es gar keinen Sinn, von Dingen zu sprechen, die materiell, stofflich sein sollen. Denn ich kenne nur, was in meinem Geiste auftritt als Geistiges.» (Berkeley, ‘A treatise concerning the principles of human knowledge’, 1710, zitiert nach W.J Stein/Rudolf Steiner, »Dokumentation eines wegweisenden Zusammenwirkens«, Verlag am Goetheanum, 1985)
Wer die Gedankenrichtung Lockes weiterdenkt, kommt zu einem Weltbild, in dem die Seele mit ihren Erlebnissen in der Welt keinen wahrhaften Platz findet; wer Berkeleys Richtung weitergeht, kommt zu einem Weltbild, das nur aus bewussten Subjekten besteht – ohne alle objektive Außenwelt.
Zusammengefasst ergeben die Lockesche und die Berkeleysche Anschauung – die durch eine Objektivierung bis zum Ichverlust und eine Subjektivierung bis zum Weltverlust charakterisiert werden können – die heutige naturwissenschaftliche Vorstellungsart. Sie schließt aus, was an dem Betrachten durch das Innenwesen der Menschenseele erlebt wird.
Auf unsere Frage, wie die Wirklichkeit zustande kommt, haben wir also noch keine zufriedenstellende Antwort bekommen. Lediglich wurde dargestellt, dass es eine äußere Wirklichkeit bzw. innere Wirklichkeit gibt, die mit dem jeweils Entgegengesetzten nichts zu tun haben soll (Locke und Berkeley).
Einen völlig anderen Weg der Lösung dieser Frage beschreibt Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832). Bevor wir seiner Anschauung folgen, sei kurz die Haltung erwähnt, in der er der Welt begegnet. In seinem Aufsatz ?»?Der Versuch als Vermittler von Subjekt und Objekt?«? beschreibt er die Voraussetzungen, die es zu erfüllen gilt, wenn der Versuch, also die Begegnung zwischen Subjekt und Objekt, gelingen soll. Ohne persönliche Neigungen, ohne Begierden und besondere Wünsche usw. soll der Betrachter an das Objekt herantreten.
«Nicht darum handelt es sich dabei, ein Interesse, das man schon hat, zu befriedigen, sondern um einen Akt der Selbsterziehung, der das Interesse für das vorliegende, zunächst uninteressante Objekt erst erbildet. Dies ist der Weg Goethes. Er geht liebevoll ein auf die Natur, und deshalb offenbaren sich ihm die geheimen Naturgesetze, an denen viele ahnungslos vorbeigehen. Er hebt das Verborgene ans Tageslicht durch die Liebe. Denn die Liebe ist die Kraft, durch welche der Mensch das verborgene Wesen hinter der offenbaren Erscheinung erfasst. Darum findet Goethe auch den Weg aus der Isoliertheit des Ich zurück zur Natur. Sie, die Liebe, verbindet das Ich mit der Welt, denn was das Ich wie mit einer Mauer umschließt und von der Welt abtrennt, das ist uns verborgen. In der Wärme und Liebe sprießt und entfaltet sich aber das Verborgene zur offenbaren Blüte. […] Indem wir das Verborgene in der eigenen Seele erleben, finden wir das wahre Wesen des Ich und zugleich den Weg zurück zur Natur.» (ebd. S. 186f)
Untrennbar ist die Haltung von der Beobachtung. Goethe erscheint die schroffe Gegenüberstellung von Selbst und Außenwelt nicht so:
«Ich wohnte …manchem Gespräch … [über Kants ›Kritik der reinen Vernunft‹] …bei, und mit einiger Aufmerksamkeit konnte ich bemerken, dass die alte Hauptfrage sich erneuere, wieviel unser Selbst und wieviel die Außenwelt zu unserem geistigen Dasein beitrage. Ich hatte beides niemals gesondert….» (ebd., S. 174)
Immer deutlicher tritt die Frage hervor, wie es eigentlich kommt, dass das Ich sich der Natur entgegensetzt, diesen Gegensatz aber nicht aufrechterhalten kann und sich in Erklärungsversuchen in die subjektive oder objektive Richtung orientiert. Wir müssen also dasjenige finden, was Natur und Ich trennt, um diese Trennung bewusst überwinden zu können.
Woran erlebt sich das Ich? Zunächst an seiner Leiblichkeit, dann durch Begierden und Triebe, Gefühle. Der Schritt zur Moralität ist festgehalten in den 10 Geboten Moses. Auch an der Befolgung dieser Worte erlebt sich das menschliche Ich. Überwunden durch das Christentum bedeutet Ichkraft heute:
«Ein neu Gebot gebe ich euch, dass ihr euch untereinander liebet, dass auch ihr euch untereinander liebet, wie ich euch geliebet habe.» (Joh. 13)
Liebe lässt sich nicht gebieten. So wird der Mensch, der die Norm erfüllt, abgelöst durch den Menschen, der aus Liebe handelt.
«Schiller meint, das wahre Ich sei etwas, das sich nicht mit dem Vernunfttrieb (mit dem moralischen Wesen), aber auch nicht mit den Leidenschaften und Begierden identifiziert. Er meint, dass das Ich sich als ein Wesen erlebe, das sich gegenüber beiden als ein von ihnen Unterschiedenes behauptet. Und wo findet sich dieses? Eben in dem Reich des Schönen, von dem Goethe sagt, es sei die Manifestation geheimer Naturgesetze.» (Goethe nach W.J Stein/Rudolf Steiner, »Dokumentation eines wegweisenden Zusammenwirkens«, Verlag am Goetheanum, 1985, S. 184)
So kann sich das Ich viermal abheben, vom Leib, vom Trieb, von den Erinnerungen, von der Moralität. Dann findet es sich wieder im Gebiet des Schönen, das Ausdruck geheimer Naturgesetze ist.
«Was also trennt das Ich von der Natur? Der Teil der Welt, welcher verborgen ist, der aber offenbar wird, wenn der Mensch sein tiefstes Wesen in dem erfasst, was er aus Neigung, aus Liebe tut.... ‹Die Liebe ist ein Erleben des anderen in der eigenen Seele.› Sein ›Ich‹ über die Wesenheit eines anderen ausdehnen, heißt ihn lieben…. Wer daher sein tiefstes Wesen ein Element nicht in der moralischen Norm, sondern darin sieht, dass er liebefähig ist, der ergreift als sein tiefstes Wesen, das ihn der Welt verbindet, von der er sich als selbstbewusstes Ich abgesondert hat. Er erlebt, wie Goethe: sich in der Natur, doch auch Natur in sich… ‹Liebe wird hier, wie in der ganzen Abhandlung, nicht bloß ethischer Wertfaktor, sondern als reale Seelenkraft, die im Erkenntnisvorgang konstitutiv mitwirkt, behandelt.» (ebd., S.185)
Die Liebe verbindet das Ich mit der Welt. Was das Ich von der Welt trennt, ist uns verborgen.
«In der Wärme der Liebe sprießt und entfaltet sich aber das Verborgene zur offenbaren Blüte. Indem wir Liebe hegen für das Verborgene, indem wir das Verborgene in der eigenen Seele erleben, finden wir das wahre Wesen des Ich und zugleich den Weg zurück zur Natur.» (ebd., S. 187)
Hat der Mensch sich so auf die Suche nach dem wahren Ich gemacht, so kann er eine bedeutsame Entdeckung machen. Während er versucht, aus allem herauszutreten, was nicht Ich ist, kann er eines nicht abstreifen: Das Denken. Er kann zwar auch wieder versuchen; sich von ihm zu distanzieren, aber nur denkend.
«Und so scheint das Denken entweder das wahre Ich zu sein, oder das Denken verdeckt dem Menschen das wahre Ich.» (ebd., S. 187)
Nach dieser Beobachtung kann sich bald eine zweite anfügen: Das Denken verdeckt nicht nur das Ich, sondern auch sich selbst. Das gegenwärtige Denken kann ich niemals beobachten. Immer wende ich mich einem Inhalt zu, dem ich mich denkend hingebe. Diese Hinwendung schließt die gleichzeitige Beobachtung aus. Es ist dem Menschen unmöglich, sich in seiner Denktätigkeit anzuschauen. Nur im Nachhinein kann ich betrachten, was ich vormals gedacht habe.
«Das ist die eigentümliche Natur des Denkens, daß der Denkende das Denken vergisst, während er es ausübt. Nicht das Denken beschäftigt ihn, sondern nur der Gegenstand des Denkens, den er beobachtet. Die erste Beobachtung, die wir über das Denken machen, ist also die, daß es das unbeobachtete Element unseres gewöhnlichen Geisteslebens ist. Der Grund, warum wir das Denken im alltäglichen Geistesleben nicht beobachten, ist kein anderer als der, dass es auf unserer eigenen Tätigkeit beruht. Was ich nicht selbst hervorbringe, tritt als ein Gegenständliches in mein Beobachtungsfeld ein. Ich sehe mich ihm als einem ohne mich Zustandegekommenen gegenüber; es tritt an mich heran; ich muß es als die Voraussetzung meines Denkprozeßes hinnehmen. Während ich über den Gegenstand nachdenke, bin ich mit diesem beschäftigt, mein Blick ist ihm zugewandt. Diese Beschäftigung ist eben die denkende Betrachtung. Nicht auf meine Tätigkeit, sondern auf das Objekt dieser Tätigkeit ist meine Aufmerksamkeit gerichtet. Mit anderen Worten: während ich denke, sehe ich nicht auf mein Denken, das ich selbst hervorbringe, sondern auf das Objekt des Denkens, das ich nicht hervorbringe.
Ich bin sogar in demselben Falle, wenn ich… über mein Denken selbst nachdenke. Ich kann mein gegenwärtiges Denken nie beobachten; sondern nur die Erfahrungen, die ich über meinen Denkprozeß gemacht habe, kann ich nachher zum Objekt des Denkens machen. Ich müßte mich in zwei Persönlichkeiten spalten: in eine, die denkt, und in die andere, welche sich bei diesem Denken selbst zusieht, wenn ich mein gegenwärtiges Denken beobachten wollte. Das kann ich nicht.» (Rudolf Steiner, »Philosophie der Freiheit«, zitiert nach W.J Stein/Rudolf Steiner, »Dokumentation eines wegweisenden Zusammenwirkens«, Verlag am Goetheanum, 1985, S. 187f)
Dies ist der Grund, warum das Ich abgetrennt von der Natur ist. Weil das Denken auf meiner Tätigkeit beruht, kann ich den Weg zur Natur nicht finden. Aber gerade hier entsteht die Frage, wie es möglich ist, dass das Denken einerseits das objektive Wesen der Dinge erfasst und andererseits ganz auf meiner subjektiven Tätigkeit beruht. Auszuschließen ist, dass das objektive Wesen der Dinge durch meine subjektive Tätigkeit hervorgebracht wird. Hier liegt also kein Ausweg. Was aber wäre, wenn das Ich ausgelöscht hätte, was es später wieder von sich aus erzeugt? Sofort ist einsichtig, dass hier der einzige Ausweg liegt. Steiner beschreibt es so:
«Es liegt im Wesen der Seele, beim ersten Anblick der Dinge etwas auszulöschen, das zu ihrer Wirklichkeit gehört. Daher sind sie für die Sinne so, wie sie nicht in Wirklichkeit sind, sondern so, wie sie die Seele gestaltet. Aber ihr Schein (oder ihre bloße Erscheinung) beruht darauf, daß die Seele ihnen erst weggenommen hat, was zu ihnen gehört. Indem der Mensch nun nicht bei dem ersten Anschauen der Dinge verbleibt, fügt er im Erkennen das zu ihnen hinzu, was ihre volle Wirklichkeit erst offenbart. Nicht durch das Erkennen fügt die Seele etwas zu den Dingen hinzu, was ihnen gegenüber ein unwirkliches Element wäre, sondern vor dem Erkennen hat sie den Dingen genommen, was zu ihrer wahren Wirklichkeit gehört.» (Rudolf Steiner, »Die Rätsel der Philosophie«, GA 18, Rudolf-Steiner-Verlag , 1985., S. 598)
Wir löschen unbewusst aus, was wir im Erkenntnisprozess selbstschöpferisch hervorbringen. Das Denken löscht sich in uns selbst aus. Das Denken selbst trennt das Ich von der Natur.
«Wäre das Denken ein Naturprodukt, so erlebten wir es überhaupt nicht, weil wir es selbst wären. Wir erlebten es ebenso wenig wie die Verdauung.» (Rudolf Steiner, »Von Seelenrätseln«, zitiert nach W.J Stein/Rudolf Steiner, »Dokumentation eines wegweisenden Zusammenwirkens«, Verlag am Goetheanum, 1985, S.190)
Um diesem Prozess näher zu kommen, müsste man beobachten können, was das Denken als Naturprozess in uns macht, d.h. was wir denkend an unseren Leibern tun.
Die Beobachtung des gewöhnlichen Denkens zeigt uns, wie wir uns bemühen müssen, ehe ein geformter Gedanke vor uns steht. Diese Tatsache entgeht aber dem naiven Bewusstsein. Es richtet sein Augenmerk lediglich auf den Inhalt des Denkens, nicht aber auf die vorbereitende Tätigkeit, die diesen Inhalt hervorbringt. Gerade auf diese Vorbereitung kommt es an, das wird an zwei Beispielen deutlicher (1. Locke, 2. Witzenmann). Habe ich die vorbereitende Tätigkeit nicht im Bewusstsein, bin ich den Gedanken, wie sie kommen und gehen, ausgesetzt. Dies beschreibt Locke so:
«Ich fordere jeden auf zu versuchen, ob er eine irgendwie beträchtliche Zeit lang in seinem Geiste eine einzelne Idee ohne eine zweite unverändert festhalten kann… Alles, was hierbei in seiner Macht steht, ist, glaube ich, bloß darauf zu merken und zu beachten, welche Ideen es sind, die vor seinem Verstande vorüberziehen….» (John Locke, »Über den menschlichen Verstand«, 2. Buch, 14. Kapitel, Paragraphen 13 und 15, zitiert nachW.J Stein/Rudolf Steiner, »Dokumentation eines wegweisenden Zusammenwirkens«, Verlag am Goetheanum, 1985, S. 191)
Locke beschreibt den Ursprungsmoment der Ideen nicht. Demgegenüber hat Herbert Witzenmann gerade den Unterschied sowie den Bezug zwischen dem Gedanken als Objekt und seiner Hervorbringung beschrieben. Er nennt das Erstere Denkinhalt, das Zweite Denkakt. Das Ich ruft im Denkakt den Denkinhalt hervor, der in sich eigengesetzlich ist. Beide sind immer miteinander verknüpft. Wollte ich beide beobachten, müsste ich mich in zwei Menschen zerteilen, den einen, der denkt und den anderen, der das gegenwärtige Denken beobachtet. Das aber ist unmöglich.
In Bezug auf die Trennung von Ich und Welt tritt nun die Frage auf, wie die Denktätigkeit in Verbindung zum Leibe steht. Aristoteles beschreibt diese normalerweise unbewusste Trennung des Ich von der Welt durch das Denken (Auslöschung) so: bevor wir erkennen, wirkt der Verstand auf ein sensitives Organ. Dieser Einfluss bewirkt eine Rückwirkung. Aufgrund dieser Rückwirkung, die nur auf den sinnlichen Teil gerichtet ist, wird aus unserem Denkvermögen, aus einem bloß in Möglichkeit Denkenden, ein wirklich Denkendes gemacht. Dieses ist die Funktion des nous pouticos, der im gewöhnlichen Bewusstsein das unbeobachtete Element ist und dadurch das Ich von der Natur trennt.
Nun besteht die Aufgabe darin, ein höheres Bewusstsein zu entwickeln, das sich nicht mehr auf die eigene Denktätigkeit beschränkt, sondern auf diese wie auf einen äußeren Vorgang hinblicken kann.
«Von diesem neu gewonnenen Bewusstsein aus erscheint die früher unbewusst gebliebene Denktätigkeit als ein auf die eigene Leiblichkeit gerichtetes Tun, welches den Leib so präpariert, dass derselbe, sobald die Tätigkeit abgeschlossen ist, den Gedanken im gewöhnlichen Bewusstsein aufleuchten lässt. ...Unsere Organisation zerreißt die einheitliche Welt in zwei Teile, ehe sie unser bewusstes Erlebnis wird. Der eine Teil steht als Sinnenwelt vor uns, der andere wird durch unsere Organisation ausgelöscht. Durch unsere eigene schöpferische Tätigkeit bringen wir nun zur Erscheinung, was wir vor allem Erkennen verlöscht haben. Durch diese Technik des Auslöschens der halben Wirklichkeit, um diese wieder schöpferisch zur Erscheinung zu bringen, sind wir ein selbstbewusstes Ich. Wir danken unsere Ich-heit den Kräften, welche uns verhüllen, dass wir der Welt erst genommen haben, was wir erkennend hervorbringen. Das erst Verlöschte, später als Resultat der eigenen Tätigkeit Aufleuchtende sind die Begriffe.» (Rudolf Steiner, »Die Philosophie der Freiheit«, zitiert nach W.J Stein/Rudolf Steiner, »Dokumentation eines wegweisenden Zusammenwirkens«, Verlag am Goetheanum, 1985, S. 193f)
Der dem naiven Bewusstsein als gegeben erscheinende Baum wird also von der menschlichen Organisation gar nicht als solcher »fotografiert«, sondern in zwei Teile dividiert, die unter Beteiligung des Menschen erst dann die Zusammenfügung (Vorstellung) des Baumes ergeben. Dieser Prozess verläuft meistens unbewusst.
Herbert Witzenmann bezeichnet die eine Seite des Organismus, der sich dem wahrzunehmenden Gegenstand zuwendet, als Sinneswerkzeug. Dieses dekomponiert den Gegenstand. Erst zusammen mit der anderen Seite (dem Begriff) ergibt sich das volle Bild des Baumes. Die Suchbewegung nach dem Begriff können wir uns am Beispiel eines Spazierganges im Nebel verdeutlichen:
Ist dort ein Baum oder ein Haus zu sehen? Die rein wahrnehmliche Seite bleibt gleich, aber an Hand der verschiedenen Begriffe Baum und Haus entsteht eine ganz andere Vorstellung, bis der Nebel aufreißt und der falsche Begriff Haus dem wahren Begriff Baum weichen muss. Diese Suchbewegung findet in sehr subtiler Weise ständig statt, ohne dass wir im normalen Bewusstsein darauf Einfluss nehmen wollen.
Die Zergliederung in Wahrnehmung (Dekomposition) und Denken (Begriff) hat mit der menschlichen Organisation zu tun. Der Mensch zergliedert also, was er im Erkenntnisakt wieder zusammenfügt (Rekomposition – Verbindung von Wahrnehmung und z.B. dem Begriff des Baumes). Nur geschieht diese Zergliederung (oder auch Auslöschung) unbewusst.
«Die Wahrnehmung ist der Teil der Wirklichkeit, der objektiv, der Begriff derjenige, der subjektiv (durch Intuition…) gegeben wird. Unsere geistige Organisation reißt die Wirklichkeit in diese beiden Faktoren auseinander. ...Erst der Zusammenhang der beiden, die gesetzmäßig sich in das Universum eingliedernde Wahrnehmung, ist die volle Wirklichkeit.» (Rudolf Steiner, »Die Philosophie der Freiheit«, Rudolf-Steiner-Verlag, 1958 ,S.247f)
Da das Wesen der Wahrnehmung gerade im Nichtbegrifflichen liegt, jeder Zusammenhang aber begrifflich ist, ist das Wahrnehmliche ohne Begriff ein reines Chaos. Der Zusammenhang, also die Überbrückung von Ich und Welt, geschieht dadurch, dass weder nur im Objektiven, wie Locke es versucht hatte zu zeigen, noch nur im Subjektiven, wie Berkeley es behauptet, die Wirklichkeit entsteht, sondern nur im Erkenntnisakt, in dem Dekomponiertes (Wahrnehmung) mit dem Begriff rekomponiert wird und die Wirklichkeit selbstschöpferisch neu entsteht. Damit haben wir eine erste Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Ich und Welt erhalten.
Wenden wir uns nun dem Denken selbst als Objekt der Beobachtung zu. Diesen Schritt tat Goethe noch nicht, er möchte auf die Durchdringung von Begriff und Wahrnehmung hinweisen. Er möchte auf die Phänomene schauen und diese in eine gültige Ordnung bringen, an deren Spitze ein erstes Phänomen (Urphänomen) steht. Goethes Weg ist der der Naturwissenschaft. Beginne ich über das Denken nachzudenken, gehe ich einen zweiten Weg, der nicht vom Sinnlichen ausgeht, sondern vom Übersinnlichen, denn das Denken über das Denken führt über das Phänomen hinaus. Wir betreten nun mit der Erkenntniswissenschaft den Bereich des Übersinnlichen.
Der Naturwissenschaftler ist durch die Welt der Phänomene nicht zufriedengestellt, so bildet er Hypothesen darüber, was wohl den Phänomenen zu Grunde liegt. Der Erkenntniswissenschaftler beschreibt lediglich das, was ihm beobachtbar ist, im Sinnlichen wie im Übersinnlichen. Die Naturwissenschaft und mancher Philosoph sprechen hier von nicht zu überwindenden Erkenntnisgrenzen. Erkenntnisgrenzen sind zwar schmerzlich, aber nicht unüberwindlich. Sie sind selbst gesetzt, ein Phänomen, das jeder Suchende selbst erfahren muss.
«Dem Empfindenden scheint das Anstoßen an die Erkenntnisgrenze wie ein Tasten der übersinnlichen Welt. Kann man sie aber nur tasten, oder gibt es einen Weg in die übersinnliche Welt, der dem naiven Bewusstsein verschlossen ist» (Rudolf Steiner, »Von Seelenrätseln«, zitiert nach W.J Stein/Rudolf Steiner, »Dokumentation eines wegweisenden Zusammenwirkens« Verlag am Goetheanum, 1985, S.22)
Diesen Weg als Grundlage der Anthroposophie beschreibt Rudolf Steiner in der »Philosophie der Freiheit«. Der Schlüsselmoment ist dabei, das Denken selbst zum Inhalt der Beobachtung zu machen. (siehe Rudolf Steiner, »Die Philosophie der Freiheit«, 3. Kapitel)
Wie aber kann ich mein Denken beobachten? Gleichzeitiges Hervorbringen von Gedanken und deren Beobachtung schließen sich aus. Ich kann also nur das Ergebnis des Denkprozesses beobachten, den gefassten Gedanken, nicht aber den Prozess, der zu seiner Hervorbringung geführt hat. Ein Teil des Denkens geht also nicht in das zu Beobachtende über. Die Hervorbringung ist unerinnerbar. Nur der Inhalt ist erinnerbar. Ist die Wahrnehmung (das Nicht-Begriffliche, auf das nur gedeutet werden kann und dessen Wesen im Nicht-Zusammenhang besteht) bei der Sinnesbeobachtung das bloß Gegebene und der Begriff das nicht Gegebene, so kehrt sich dieses Verhältnis in der Beobachtung des Denkens um.
Die »Wahrnehmungshälfte« ist das vormals durch das Denken Hervorgebrachte, das nicht bloß Gegebene, und die sie ergänzende Hälfte, der Inhalt der Gedanken, ein bloß Gegebenes.
Was dem Bewusstsein im Sinnlich-Wahr-nehmlichen als nicht bloß Gegebenes geschenkt wird, muss im Übersinnlichen als bloß Gegebenes hervorgebracht werden. «Im Übersinnlichen ist daher das Wahrnehmen ein nicht bloß Gegebenes, das heißt aktiv.» (W.J Stein/Rudolf Steiner, »Dokumentation eines wegweisenden Zusammenwirkens«, Verlag am Goetheanum, 1985, S.263)
Für das Übersinnliche haben wir demgemäß kein Organ wie das Auge oder das Ohr, sondern das Organ ist das Denken.
«Als Ausgangspunkt einer Erkenntnistheorie des Übersinnlichen ergibt sich daher nicht das Auftreten eines nicht bloß Gegebenen innerhalb des Gegebenen, sondern vielmehr müssen wir innerhalb des nicht bloß Gegebenen ein bloß Gegebenes suchen. Wo also finden wir innerhalb der Denktätigkeit ein bloß Gegebenes? Offenbar im Inhalt des Denkens.» (ebd., S.263)
Nehmen wir nun an, dass sich auch weitere Bewusstseinsstufen zeigen lassen, die mit dem Denken des Denkens als Voraussetzung beginnen. Diese Annahme erweist sich dem Leser allerdings nur im mitvollziehenden Denken. Was Thomas von Aquin und Alanus ab Insulis vorbereitet hatten, die Individualisierung des Menschen aus der Möglichkeit des Ich in die Wirklichkeit des Ich durch das Denken und die Eingliederung dieser Erkenntnisse in das eigene Seelenleben und damit die Engelwerdung des menschlichen Wesens, wird nun fortgesetzt. Das Erkenne Dich Selbst, das herabgestiegen ist als Gegenüber und selbst hervorgebracht, kann nun mit der Erkenntniswissenschaft eine höhere Bewusstseinsstufe erklimmen; d.h. durch das Erkennen des Erkenne Dich Selbst (Christus) werden die höheren Bewusstseinsstufen (Hierarchien) verwandelt, als durch jedes hinzutretende Ich die Gemeinschaft der tätigen, sich durchdringenden Bewusstseine erweitert wird. Durch jedes Ich kann sich ein anderes Ich neu bestimmen.
Wie schon Thomas gezeigt hatte, ist die der Sinneswahrnehmung zugewandte Erkenntnisweise nicht geeignet, den Engel, der ja keinen physischen Leib besitzt, zu erkennen. Wir müssen also das Gebiet von Wahrnehmung (bloß Gegebenem) und Begriff (nicht bloß Gegebenem) verlassen und uns der für den Menschen als Ausnahmezustand beschriebenen Umkehrung von Aktivitätspol und Passivitätspol im Denken des Denkens zuwenden. Dieser Ausnahmezustand für den Menschen ist für den Engel Dauerzustand.
Eine zweite, noch höhere Bewusstseinsstufe wird erreicht, wenn das für den Menschen auseinanderfallende Erleben von Hervorgebrachtem und seiner Beobachtung in einen Vorgang zusammenfällt. Wenn also dieses Bewusstsein sich im Hervorbringen beobachten kann. Für diesen Bewusstseinszustand fällt das für den Menschen typische Innen und Außen in eine Erfahrung zusammen. Innen und Außen gibt es im sich selbst vollziehenden, sich selbst beobachtenden Hervorbringen nicht mehr. Zugleich bedeutet dieses aus der anderen Sicht, dass das selbst Hervorbringen nicht mehr als solches dem Gegebenen gegenübersteht, sondern das sich selbst beobachtende Denken. Das Hervorbringen wird als ein objektiver Vorgang realisiert.
«Wir hätten also ein Wesen, dessen nach außen gerichtetes Selbsterlebnis im Innern als objektiver Vorgang erlebt wird.» (ebd., S.263)
Außen und Innen sind als für den Menschen nachzuvollziehende Polaritäten gemeint. Bezeichnet man das als hervorbringend – und das dieses beobachten könnende Wesen als Ich des Menschen – so unterscheidet es sich vom Engel dadurch, dass es direkt auf die Wahrnehmungswelt einwirken kann durch das Bewohnen eines physischen Leibes.
Ist der Begriff des Innen auf den Menschen bezogen worden, so wird er noch klarer aus der Frage nach der Herkunft des sich selbst beobachtenden Hervorbringens. Innen bezeichnet hier also die Auswahl des Gedankens, es deutet auf das »Selbst« des hervorbringenden Wesens. Dieses Wesen bringt nur das hervor, was es aus seiner sich selbst gebenden Denkrichtung auswählt, es erzeugt sich also selbst.
Hier gelingt nun die Unterscheidung der dritten und höchsten Bewusstseinsstufe. Galt bei der Zweiten noch das aus sich selbst Hervorbringen, was als objektiver Vorgang erlebt wird, verändert sich nun die »Herkunft« des Selbst. Gab es also in der zweiten Bewusstseinsstufe noch ein Innen und Außen in Bezug auf das Selbst, so fällt dieser Gegensatz nun weg. Dieses Wesen hat als seinen hervorbringenden sich selbst beobachtenden Willen also kein Selbsterlebnis als Trennungserlebnis. Sein Selbst wird eins mit dem äußeren Willen, ruhende Gedankeneinheit und beobachtende Hervorbringung sind nun untrennbar miteinander verbunden. Hat der Mensch vormals seinen Willen gerichtet in der Auswahl der hervorgebrachten Gedanken, so ist jetzt sogar die Auswahl in Einklang mit der in sich ruhenden Gedankeneinheit.
Fassen wir diese drei höheren Bewusstseinsstufen unter dem Aspekt von Innen und Außen zusammen:
«Als Erkennende sind wir über die ganze Welt ausgespannt. Denn es gibt kein Ding und Wesen, in welches nicht unser Denken mit zahllosen Fäden hineingewoben wäre. Und dieses innere Geistgewebe der Dinge ist nichts anderes als die Fortsetzung der Beziehungen, durch welche die Dinge im Netz der Wirklichkeit befestigt sind. In diesem Geistgewebe der Wirklichkeit ist unser Ich ständig, meist freilich ohne volles Bewusstsein, als innere Webekraft wirksam. Wir atmen das Licht der Welt aus und ein, das geistige Wesen mit ihrer schenkenden Tugend erfüllen; das Blut des Weltenherzens, zu dessen Opferkraft geistige Wesen ihre Gaben wie zu einem Altar tragen, quillt durch uns hindurch. Denn wir können unser Ich nicht anders erfassen als in diesem Atem und Herzschlag der Wahrheit, die über die ganze Welt ausgebreitet ist. Wir leben als Erkennende im Lichte der Welt. Wir haben ein peripheres Ichbewusstsein.» (Herbert Witzenmann, »Toleranz und Vertrauen«, Gideon-Spicker-Verlag 1984)Der Mensch dieses Bewusstseins erlebt das Wesen aller Dinge in sich aussprechend, so dass er das Wesen der Dinge aus sich selbst erlebt, d.h. Wesen des Dinges und er selbst nicht getrennt sind. Dieses sich Aussprechen des anderen Wesens im Vernehmen (Hören), das ein Vorgang ist, nimmt worthaften Charakter an. Das Ding selbst gibt sein Wesen im Menschen kund. Damit ist der Ursprung des Dinges erreicht.